Falsche Kriegsromantik

von Lisa Kreutzer

Editorial TAGEBUCH 4/2022

Ein Mann hebt eine Mine vom Schotterboden einer Straße in der ukrainischen Provinz, im Mundwinkel klemmt eine brennende Zigarette. Mit stoischer Ruhe trägt er sie unter Lebensgefahr über den Straßenrand, um den ukrainischen Truppen den Weg freizumachen. So jedenfalls lautet die Erzählung zu jenem kurzen Video, das Anfang März auf diversen Social-Media-Plattformen über eine Million Mal geteilt wurde. Der Mann, der in dem Video mutmaßlich sein Leben riskiert, wird im Internet als ziviler Held des Widerstands gegen die russischen Truppen gefeiert.

Seit Beginn des Krieges in der Ukraine gehen solche Videos viral. Der Krieg, so scheint es, bringt auch in Milieus, die sich vorgeblich als links verstehen, eine Begeisterung für überholt geglaubte Werte an die Oberfläche. »Nation, Ehre, Treue, Ruhm und die Verteidigung des Eigenen« – im Angesicht der Katastrophe, konstatiert Benjamin Opratko, beschwören Teile der kritischen Öffentlichkeit die Geister der Vergangenheit. 

Die allermeisten ukrainischen Männer haben freilich nicht die Wahl, ob sie die »Helden« dieses Krieges sein möchten. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ordnete an, dass Männer zwischen 18 und 60 Jahren das Land nicht mehr verlassen dürfen. Ihr Handeln in dieser furchtbaren Situation aus der Distanz moralisch zu mystifizieren verklärt ihr Elend, und Zivilisten für ihren Widerstandsgeist als Helden zu feiern ist keine angemessene Entschädigung. Was wird bleiben außer Trauma und Leid? Auch die zeitlich begrenzte »Solidarität« der Länder, die sich westlich nennen, wird diese Wunden nicht heilen können. Warum finden diese Heldengeschichten so großen Anklang? Geben Sie Halt und die Sicherheit, dass in Krisenzeiten wenigstens die altbekannten Narrative weiter funktionieren? Oder zeigen sie, was schon lange unter der Oberfläche brodelt: ein gut versteckter, aber wohl gehegter Chauvinismus samt einer Prise Kriegsromantik?

Insgesamt widmen wir dem Krieg in der Ukraine 20 Seiten dieser Ausgabe. Benjamin Opratko kommt zu einer wenig optimistischen Einschätzung: »Kurzfristig gibt es keine gute Lösung für diesen Konflikt. Die am wenigsten schlechte ist jene, die das Töten am schnellsten beendet und Russland so wenig Kontrolle über ukrainische Gebiete belässt wie dafür nötig. Am vorläufigen Ende wird im besten Fall ein schlechter Kompromiss stehen, der immerhin Leben rettet.« Sophie Lampl wiederum plädiert dafür, dass sich Europa nicht nur von russischem Gas und Öl unabhängig machen sollte, sondern von fossilen Energieträgern überhaupt. In unserer Titelgeschichte prognostiziert Rafael Poch de Feliu, langjähriger Moskau-Korrespondent der katalanischen Tageszeitung La Vanguardia, das politische Ende Wladimir Putins als immerhin mittelfristige Folge dieses Krieges.

Einen Hauch von Optimismus versprüht schließlich Natascha Strobl. Dass sich in Österreich derzeit, wie zuletzt im Jahr 2015, solidarische Menschen zusammentun, um Geflüchteten zu helfen, begreift sie als Chance, diese Gesellschaft ganz grundlegend zu verändern. Es sei wichtiger denn je, schreibt sie, »eine solidarische Zukunft sichtbar zu machen. Heute steht alles zur Disposition, auch die neoliberalen Zwänge und Wahrheiten, zu denen es angeblich keine Alternativen gibt.« Wir wollen hoffen, dass sie damit recht behält.

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