Während sie dies lesen, geht dem zwischen Österreich und Ungarn gelegenen Neusiedler See das Wasser aus. »Ende Jänner 2022 trieb ein Sturm das Wasser aus der Ruster Bucht des Sees und legte den grauen, schlammigen Boden frei, Boote steckten fest, Stege führten ins Leere«, schreibt Lisa Kreutzer in ihrer Reportage. Sie hat sich vor Ort ein Bild von den ökologischen Konsequenzen der neuen Trockenheit gemacht – und von den umstrittenen Versuchen, ihr ein Ende zu setzen.
Wie es global um die Wasservorkommen bestellt ist, untersucht Kathrin Gerlof. Wo heute der Amazonas ist, könnte bald eine Savanne entstehen. Warum uns das nicht alle panisch werden lässt, dafür gibt es eine wissenssoziologische Erklärung: Menschen sind, stark vereinfacht, ein bisschen zu gut darin, sich mit immer drastischeren Umständen zu arrangieren und das Katastrophale als gegeben hinzunehmen. »Shifting baseline syndrome« nennt sich das.
In diesem langen Sommer der Apokalypse könnte man es wohl kaum jemandem verübeln, sich nach hedonistischen Gefilden zu sehnen. Berlin-Neukölln zum Beispiel: Das kennt irgendwie jeder, vor allem Leute, die noch nie da waren. Früher heruntergekommen, heute gentrifiziert. Teure Mieten, dafür aber auch lauter teure Bars. Wo dazumal direkt an der S-Bahn-Station Neukölln eine ganz normale Videothek für ganz normale Leute stand, ist heute ein Bioladen. True Story, so fad wie die Immobilienbroschüren eines Großinvestors. Neukölln ist jedoch seit Jahren auch ein Kulminationspunkt rechter Gewalttaten, der Großteil davon wurde nie aufgeklärt. Zu den Opfern zählt etwa der Politiker Ferhat Koçak (Die Linke), auf dessen Auto 2018 ein Brandanschlag verübt wurde. Das Haus seiner Familie wurde damals beschädigt. In Berlin-Neukölln nimmt dieser Tage ein Untersuchungsausschuss die Arbeit auf, um die zahlreichen rechten Gewalttaten aufzuklären und nicht zuletzt die Fehler der ermittelnden Behörden aufzuarbeiten. Auch Koçak, Mitglied des Abgeordnetenhauses, ist Teil davon. Dass er als Betroffener selbst am Untersuchungsausschuss mitwirkt, stößt bisweilen auf Kritik. Aus dem NSU-Tribunal, welches Anfang Juni in Nürnberg stattgefunden hat, kann man jedoch eine wesentliche Lehre ziehen: In Deutschland sind es allzu oft gerade die Betroffenen, die Überlebenden und Hinterbliebenen, die Aufklärung einfordern und durchsetzen – weil die Behörden versagen, immer wieder. »Der rechte Terror in Deutschland hat nicht nur Tradition, sondern auch treue Verbündete in Sicherheitsbehörden, Parteien und Medien«, schrieb Robert Andreasch 2019 in der Titelgeschichte des TAGEBUCH zum »Land des rechten Terrors«. Daran hat sich nichts geändert. Es steht zu hoffen, dass neue Untersuchungsausschüsse wie der in Neukölln oder in Bayern diese Verbündeten nun endlich aufdecken. Auch Manja Präkels und Markus Liske schreiben über das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen: »Wie lässt sich die gesellschaftliche Situation, die Atmosphäre jener Jahre zwischen Systemzusammenbruch und -neuformation beschreiben, für die das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen zum Symbol geworden ist? […] ›Baseballschlägerjahre‹ ist so ein Schlagwort, ›Stunde null‹ ein anderes. Doch beide scheitern daran, etwas historisieren zu wollen, das nie wirklich aufgehört hat.«
Wie institutioneller Rassismus in Österreich aussieht, lässt sich am Beispiel illegaler Pushbacks illustrieren. Darüber hatte Lisa Kreutzer vor einem Jahr berichtet, insbesondere über den Fall von Ayoub N., der ohne ein Asylverfahren und somit illegal zurückgewiesen wurde. Nun hat ein Gericht bestätigt, dass die Polizei illegale Pushbacks durchgeführt hat – und zwar methodisch. Trotz des Urteils dürfen Betroffene wie Ayoub N. noch immer nicht zurück nach Österreich: Es gab für sie weder Entschädigungen noch ein Recht auf Wiedereinreise, berichtet Kreutzer.
Zu guter Letzt ein Hinweis in eigener Sache, mit dem sich dieser Apokalypse-Sommer vielleicht etwas besser überbrücken lässt: Neuerdings finden Sie unseren Bücherpodcast Readers in Residence auf allen gängigen Podcast-Plattformen. Die aktuelle Folge befasst sich unter anderem mit Blinde Passagiere von Karl Heinz Roth, der schon in TAGEBUCH NO 3/2022 über den künftigen Umgang mit Pandemien schrieb, oder mit dem Sammelband Brotjobs & Literatur, der von den Arbeitsbedingungen für Schriftstellerinnen und Schriftsteller handelt. Wir freuen uns, wenn Sie reinhören!
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