Mehr als ein Gefühl

von Benjamin Opratko

Editorial TAGEBUCH 6|2023

Wohin trägt einen die Wut, und wohin trägt man sie? Was macht Langeweile mit einem Menschen? Wie wird Ohnmacht zur Grundlage von Herrschaft? Ist Hass immer schlecht?

Gefühle gelten in der abendländischen Kulturgeschichte lange schon als das Gegenteil von Verstand. Aus der Politik sollten sie rausgehalten werden, ebenso aus der Geschichtsschreibung, überhaupt aus der Öffentlichkeit. Diese Angelegenheiten sollten, wie es bereits beim alten Lateiner Tacitus hieß, »sine ira et studio« behandelt werden, ohne Zorn und Eifer. Die Trennung von Ratio und Emotion wurde in der europäischen Moderne, als das Bürgertum seinen politischen Herrschaftsanspruch mit Verweis auf die Fähigkeit zur vernünftigen Geschäftsführung begründete, zur ungeschriebenen Verfassung. Wer seine Gefühle nicht im Griff hat – Kinder, Frauen, Nichtweiße –, sollte daher besser aus den öffentlichen Angelegenheiten herausgehalten werden. Die Verbannung von Gefühlen aus der Politik war immer ein Herrschaftsmittel, heuchlerisch und selbst in höchstem Maße emotional aufgeladen. Jeder Aufbruch von Marginalisierten sieht sich dem wütenden Verdikt der Herrschenden ausgesetzt, unvernünftig und hysterisch zu sein.

Tatsächlich ist die Politik natürlich voll von Gefühlen. Wohin tragen Menschen ihre Wut über Politiker, die sie zwingen wollen, länger als bisher für das Kapital zu arbeiten? Auf die Straße – oder in die Wahlkabine, wo sie, wie Bernard Schmid in der Titelgeschichte dieser Ausgabe beschreibt, überwiegend der extremen Rechten ihre Stimme geben. Die anhaltenden Konflikte in Frankreich um die von Emmanuel Macron durchgeboxte Pensionsreform zeigen beispielhaft, wie viel Vernunft in wütendem Aufbegehren stecken kann, aber eben auch, wie Wut immer schon den Falschen Stärke verlieh. Oder nehmen wir die Proteste der Klimaaktivistinnen, die sich mit dem Mut der Verzweiflung auf Straßen kleben, um die apokalyptische Unvernunft der herrschenden Klimapolitik zu verdeutlichen. Sie treffen wiederum auf die Wut der Autofahrer, die ihre benzingetriebene Freiheit mit Gewalt durchsetzen wollen und dabei nicht selten auf die Unterstützung durch Polizei und Medien zählen können – Johannes Greß und Sebastian Rosenauer berichten davon. Im ausführlichen Gespräch mit Sonja Luksik macht die Soziologin und Autorin Silke Ohlmeier wiederum deutlich, dass selbst ein alltägliches Gefühl wie Langeweile eminent politisch ist, dem nicht einfach mit privaten Strategien begegnet werden kann: »Wollen wir uns von Langeweile lösen, müssen wir auch die Gesellschaft ändern«, sagt Ohlmeier.

Beginnt man so in die Ausgabe, die Sie in der Hand halten, hineinzulesen, erscheint sie überhaupt als randvoll mit Gefühlen: Wut darüber, dass die Präsenz von Faschisten im Wiener Kaffeehaus-Alltag emotionslos hingenommen wird (Marko Dinić). Hoffnung, dass der Wahlerfolg der KPÖ in Salzburg und die Kandidatur Andreas Bablers für den Vorsitz der SPÖ (Ausgang bei Redaktionsschluss noch offen) Auswege aus der Hölle der vernünftigen »Mitte« zeigen (Kathrin Niedermoser). Sorge darüber, wie »Volkskanzler«-Anwärter Herbert Kickl von der FPÖ seine zukünftige »Festung Österreich« einrichten möchte (Berthold Molden). Entsetzen ob der giftigen Mischung aus Ohnmacht und Einvernehmen, die in Russland den Angriffskrieg des zunehmend totalitären Putin-Regimes stützen (Sasha de Vogel). Freude über die literarische Wiederentdeckung Diego Vigas. Letztere teilt Karl-Markus Gauß mit uns, was wiederum die Redaktion mit Freude erfüllt, da mit ihm ein wichtiger Protagonist des bis 1989 erschienenen Wiener Tagebuch als Autor gewonnen werden konnte. Sie werden, wenn Sie noch kein Eiszapfen geworden sind, von dieser TAGEBUCH-Ausgabe nicht kaltgelassen werden.

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