Nach der US-Wahl und den darauffolgenden öffentlichen Auftritten von Donald Trump liest sich manch Klassiker der politischen Psychologie erschreckend aktuell. So möchte man vermuten, Leo Löwenthal habe das Phänomen Trump schon vor 75 Jahren prophezeit: »Die Eintritt zahlenden Zuhörer erleben eher eine Art Schauspiel, eine Art Zwischending von tragischem Monolog und Clownspantomime, als eine politische Rede.«
Damals stand Löwenthal als Mitbegründer der Kritischen Theorie mit seinem Interesse für faschistische Agitatoren nicht allein da. Nach der Zäsur des Nationalsozialismus stellten auch US-amerikanische Sozialpsychologen wie Gordon W. Allport oder Stanley Milgram ihren umfangreichen Studien die berechtigte und besorgte Frage voran: Könnten autoritäre Regime auch in den Vereinigten Staaten Fuß fassen? Löwenthal, zu dieser Zeit am Institut für Sozialforschung in Frankfurt tätig, destillierte aus Flugschriften, Zeitschriften und Reden die wesentlichen Merkmale faschistischer Agitatoren und veröffentlichte die Ergebnisse 1949 in seinem Buch Falsche Propheten. Der von Löwenthal analysierte Agitator bringt die im Publikum schlummernde Unzufriedenheit zur Sprache und fungiert somit als Geburtshelfer für dessen innerste Gedanken. Der Ausweg aus dem ständigen Unbehagen (der »Malaise«) blockiert der Agitator jedoch, was ihn sowohl vom Revolutionär als auch vom Reformer unterscheidet: »Ständig betont er die Notwendigkeit der Eliminierung von Personen anstatt der Veränderung der politischen Struktur.«
Die Parallelen zu gegenwärtigen politischen Führern – auch Kollege Benjamin Opratko zieht sie in seinem Beitrag – liegen auf der Hand: Heute drohen Trump und sein propagandistisches Umfeld mit der Deportation und Auslöschung von Migrant:innen und politischen Feind:innen. Doch man muss gar nicht auf einen anderen Kontinent blicken, um Tendenzen der faschistischen Agitation ausfindig zu machen. Die autoritäre Rechte erhält auch in Europa Aufwind – wie jüngst die Wahlen zum Europäischen Parlament, jene in verschiedenen Mitgliedsländern der EU und auch in Österreich verdeutlicht haben.
Dabei ist der Widerspruch zwischen der extremen Rechten und der europäischen Integration gar nicht so unüberwindbar, wie von vielen lange postuliert. Zur Kompatibilität der beiden trägt die »zivilisatorische Wende« des europäischen Projekts ganz wesentlich bei, wie Hans Kundnani zeigt. Er legt die Probleme einer »strategischen Autonomie«, welcher die Verklärung der EU als Gegenpol zu den USA zugrunde liegt, offen: »Auf andere EU-Staaten zu vertrauen, die bereits rechtsextreme Regierungen haben oder in naher Zukunft haben könnten, birgt schon das Risiko der nächsten ausgewachsenen Krise.«
Den Siegeszug illiberaler Kräfte, gleich ob auf dem amerikanischen oder europäischen Kontinent, konnte Mitte der 1990er-Jahre kein Prophet vorher- und voraussagen. Damals mobilisierte der Großteil der politischen und ökonomischen »Player« für einen Beitritt Österreichs zur EU, die Bevölkerung willigte mittels Volksabstimmung ein. Passend zum 30-Jahr-Jubiläum des EU-Beitritts ziehen im vorliegenden Heft sieben Persönlichkeiten aus Kultur, Medien, Wissenschaft und Zivilgesellschaft eine kritische Bilanz.
Ein weiterer Schwerpunkt dieser Ausgabe liegt auf dem Widerstand gegen die europäischen Faschismen des 20. Jahrhunderts – konkret auf dem kommunistischen. Barbara Eder setzt ihren Reisebericht fort, dieses Mal handelt er von der italienischen Insel Ventotene, auf der die von Mussolini Verbannten eine antifaschistische Allianz bildeten. Anlässlich des 25. Todestages von Margarete Schütte-Lihotzky finden sich in dieser Ausgabe gleich zwei Beiträge über die Architekturpionierin und Widerstandskämpferin: ein Lokalaugenschein in der früheren Wohnung Schütte-Lihotzkys und ein Einblick in ein bisher unveröffentlichtes Reisetagebuch.
Abschließend ein abrupter, aber wichtiger Wechsel vom Inhalt zur Form. Auf dem Cover haben Sie es vielleicht schon bemerkt: Mit dieser Ausgabe hat unsere neue Jahrgangsillustratorin Lou Kiss ihre Arbeit für das TAGEBUCH aufgenommen. Kiss, die in der Vergangenheit unter anderem für die New York Times und die Washington Post gearbeitet hat, wird die kommenden sechs TAGEBUCH-Ausgaben illustrieren. Wir freuen uns nach der ersten gemeinsamen Produktion bereits auf die kommenden.
Verabschieden müssen wir uns indes von Dani Maiz. Vor einem Jahr um diese Zeit produzierte der in Berlin lebende Illustrator gemeinsam mit unserer Art- und Chefredaktion seine erste TAGEBUCH-Ausgabe. Seinen fulminanten Abschluss findet diese Kollaboration mit dem Jahrgangsschuber 2024, der in einer exklusiven Auflage ab sofort erhältlich ist. Eine besondere Freude ist es uns, dass es eine von Maiz für uns illustrierte Geschichte (»Der Putsch-Gürtel«, N° 1|23/24) auf die Shortlist für den diesjährigen Hiii Illustration Award geschafft hat. Wir gratulieren ganz herzlich!
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