Frühjahrsputz

von Samuel Stuhlpfarrer

Editorial TAGEBUCH 5|2023

Alles neu macht der Mai, das wissen Freundinnen und Freunde des traditionellen Liedguts spätestens seit dem Volksgedicht von Hermann Adam von Kamp. Und es gilt in diesem Jahr auch für das TAGEBUCH. Wie schon vermeldet, haben wir zuletzt die Strukturen hinter dieser Zeitschrift umfassend neu sortiert. Mit dieser Ausgabe liefern wir nun eine teilweise Neustrukturierung des Hefts selbst nach, von der wir uns natürlich wünschen, dass sie sich formal und inhaltlich als Gewinn herausstellen möge. Die »Kontroversen«, jene Meinungsstrecke, die seit Ende 2019 auf den ersten Seiten nach dem Inhaltsverzeichnis zu finden war, gehört mit dieser Ausgabe der Vergangenheit an. An ihre Stelle tritt eine neue Sektion, die wir »Notizen« genannt haben. »Notizen« deshalb, weil es sich – ähnlich den Randbemerkungen in einem Tagebuch – um Seitenansichten zum Zeitgeschehen handelt: in formaler Vielfalt und aus unvermindert herrschaftskritischer Perspektive.

In den »Notizen« wird nach wie vor Meinung großgeschrieben. Sorgen werden dafür aus der TAGEBUCH-Redaktion Benjamin Opratko und Kathrin Niedermoser sowie die Schriftstellerin Raphaela Edelbauer und ihr Berufskollege Marko Dinić – und zwar jeweils abwechselnd, den Start machen Opratko und Edelbauer. Danach wird künftig in jeder Ausgabe »einer der begabtesten jüngeren Ökonomen des Landes« (Wirtschaftsexperte Markus Marterbauer), nämlich Matthias Schnetzer, eine gesellschafts- und/oder wirtschaftspolitische Tagesfrage visualisieren. Für die illustrative Umsetzung von Schnetzers Grafiken in der Rubrik »Datendrang« sorgt in bewährter Weise unsere Illustratorin Ūla Šveikauskaitė. Wiederum abwechselnd werden auf diesen Seiten Jannik Eder und Jana Volkmann in ihrer Glosse »Nachdruck« die Arbeit der TAGEBUCH-Redaktion selbstkritisch reflektieren. Die dritte Doppelseite der »Notizen« gehört Berthold Molden und einem Gast. Während der Historiker Molden in seinen »Roten Fäden« nach vergangenen Ereignissen sucht, die in unsere Gegenwart wirken, soll der letzte Platz einer Intervention in aktuelle Debatten vorbehalten bleiben. In diesem Heft ist es die Sprecherin von System Change, not Climate Change, Lucia Steinwender, die der Klimabewegung »Mut zum Konflikt« machen will.

Ob dieser Mai auch innerhalb der österreichischen Sozialdemokratie alles neu machen wird, ist indes nicht gewiss. Das hat auch, aber nicht nur mit dem vollkommen dysfunktionalen Prozedere zu tun, mit dem die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ) einen Vorsitzenden oder eine Vorsitzende bestimmen will. Andreas Babler, auf den Linke inner- und außerhalb der Partei ihre Hoffnungen projizieren, gibt sich im ausführlichen TAGEBUCH-Gespräch jedenfalls siegessicher. Und er fordert nicht zum ersten Mal eine Stichwahl für den Fall, dass, wovon auszugehen ist, niemand eine absolute Mehrheit erreichen sollte. So viel demokratiepolitische Innovation ist in der SPÖ-Bundesgeschäftsstelle naturgemäß verdächtig.

Zumindest in der Türkei setzt man noch auf absolute Mehrheiten. Und das, obwohl das Land unter Recep Tayyip Erdoğan merklich autokratischer geworden ist. Seit 20 Jahren hält er – ob als Präsident oder als Premier – mit seiner Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP) die Zügel in Ankara fest in der Hand. Am 14. Mai dürfte damit allerdings Schluss sein. Dann nämlich wird im Land am Bosporus nicht nur ein neuer Präsident, sondern auch ein neues Parlament gewählt, und alles deutet darauf hin, dass Erdoğan und die AKP dabei abgestraft werden, wie Passar Hariky in unserer Titelgeschichte schreibt.

Mit Spannung sieht man dem Ausgang des doppelten Wahlgangs nicht zuletzt in der türkischen Diaspora entgegen. Nirgendwo sonst außerhalb ihres Heimatstaates leben so viele Türkinnen und Türken wie in Berlin. Kathrin Niedermoser hat sich für ihre Reportage in den türkisch-kurdischen Communitys der deutschen Hauptstadt umgehört und ist dabei vor allem auf eines gestoßen: große Hoffnung auf einen Aufbruch – oder, um mit Hermann Adam von Kamp zu sprechen: auf einen Mai »nach des Winters Nacht«.

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